rezensiert von Beate v. Reinersdorff, Dipl. Pädagogin
Ich treffe zwei Mädchen. Helen ist privilegiert – ihre Eltern sind weiß und wohlhabend – zugleich ist sie schwer beeinträchtigt. Marthas Möglichkeiten sind dünn wie der Quilt, unter dem sie in der Küche schläft, denn sie ist schwarz. Helen stapft todesmutig in die Welt und bringt ihre Familie zur Verzweiflung. Martha bleibt unsichtbar, niemand beachtet sie, wenn sie die Scherben aufsammelt. Beide sind ganz unfreiwillig miteinander verbunden. Und beide geraten nun in einen Sog der Veränderung. –
Es geht nicht schnell. Ich lese von mutigen Anfängen und erschreckenden Rückschlägen. Bildung braucht Bindung. Und die junge Lehrerin traut sich nah heran und gibt nicht auf. Sie weiß: Zeichen genügen nicht, es braucht Bedeutungen. Wird Helen begreifen, was Wörter sind und was sie damit anfangen kann?
Und Martha? Sie trägt ganze Generationen von Unterdrückung mit sich. Wird sie aus dem Schatten treten? –
Die Autorin holt mich mit ihrer bildhaften Sprache in die Welt der Kinder. Aber mehr noch: Sie traut ihnen große Gedanken zu. Prozesse der Selbstwerdung übersetzt sie in ein Kinderbuch. Ich erlebe hautnah, wie wirkliches Begreifen immer auch ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit ist. – Dabei verzichtet Dagmar Petrick auf eine heile Welt. Die Probleme verschwinden nicht, weder die Taubblindheit noch die Diskriminierung. Vielmehr gibt die Autorin auf ihre warme, ehrliche Weise den Betroffenen Stimme und Gesicht, ja, sie macht die Nebenrolle zur Hauptperson. Ich spüre: Die Autorin kennt selbst etwas von der Welt dieser beiden ausgeschlossenen Kinder. Und sie weiß von den Auswegen, die das Schreiben bietet. –
Darunter finden sich vielleicht noch mehr Schichten in der Geschichte.
Sind die Figuren nicht auch innere Anteile eines jeden Menschen? Habe ich nicht eine wilde, fühlende Helen in mir ebenso wie eine pragmatische, beobachtende Martha? Und kann ich die Klugheit beider Seiten freilegen, wie es die Lehrerin tut? –
Außerdem legt die Autorin die historischen Bezüge frei. Sklaverei, Frauenrollen, Bildung, Behinderung werden tastend berührt, so kann jedes Kind sich davon einen Begriff machen. –
Ein vielschichtiges Buch über Lernen und Freiheit, nicht nur für Kinder.